Weg IV

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Die Sonne ging auf und das Meer beruhigte sich, der Wind hatte sich verzogen. Onkel Ramón stand am Steuer, völlig erschöpft, er sah um zwanzig Jahre älter aus. Die ganze Größe, die er normalerweise in Gegenwart seiner Geschäftspartner und Kunden ausstrahlte, war dahin. Ich fragte ihn, warum er das überhaupt machte. Warum segelte er überhaupt?
„Weißt du, Augusto, das ist die letzte Herausforderung für einen Mann. Der Kampf gegen die Elemente. Hier am Meer, in einer Puta von einer Nussschale. Ob du lebst oder stirbst, das spielt keine Rolle. Wichtig ist der Kampf, den du niemals verlieren darfst. Der ewige Krieg, den du niemals aufgeben darfst.“ Kitschig. Das leuchtete mir ein.
Am Nachmittag saßen wir in einer Hafenbar, wir hatten etwas geschlafen. Ich weiß nicht mehr, welcher Hafen das war. Onkel Ramón hatte wieder Farbe im Gesicht und ich fühlte mich wie neugeboren. Was für eine Erfahrung, was für ein Abenteuer! Bei einem Glas Ouzo fragte er mich: „Hast du deinen Großbaum schon mal in eine Puta gesteckt, Augusto?“ „No.“ „Wie alt bist du?“ „Fünfzehn.“ Onkel Ramón murmelte Unverständliches in sich hinein, stand auf und wankte zu den Barmädchen. Er sagte etwas zu ihnen und hielt ihnen ein paar große Scheine unter die Nase. Alle gingen mit finstrer Miene davon – bis auf eine, die nahm die Kohle. Onkel Ramón kam wieder auf seinen Platz, schlug mir kräftig auf den Rücken und sagte zu mir nur: „Ich komme gleich, huevón.“
Ich blieb schulterzuckend an der Bar zurück. Die Barfrau, die die Scheine genommen hatte, kam zu mir, lächelte und mischte mir einen kräftigen Drink. Was sie sagte, verstand ich nicht. Scheißgriechisch. Sie bedeutete mir, schnell zu trinken und mixte mir noch einen. Grausiges Gesöff, mir war schon ziemlich schwindelig. Sie sagte dann so etwas wie: „You are beautiful.“ Ich verstand zwar nicht viel Englisch, ich hasste diese Sprache, doch zumindest einige Grundlagen konnten sie selbst mir in der Schule beibringen. „Äh, you too.“, brachte ich nur hervor und trank den Rest des Glases in einem Zuge aus. Lächerlich, reicher Onkel zahlt Neffen den ersten Fick.
Puta! Was die mit mir anstellte, unfassbar, es war mir einfach zu viel auf einmal, beinahe ein Schock.
Zwei Tage später flog ich schon nach Hause und Ramón sagte, sollte ich einmal einen Job brauchen, solle ich mich einfach melden.
Ich wusste nur, dass das Mädchen Maria hieß. So wie alle Barmädchen damals in Griechenland auch, wie mir schien.

Weg III

(Inhaltsverzeichnis)

Fast die ganzen Sommerferien blieb ich bei Onkel Ramón. Er erledigte seine Geschäfte und mich nahm er dabei mit. Wir fuhren durch halb Griechenland und schliefen jede Nacht in einem anderen Hotel. Tagsüber besuchte er Leute, während ich um den Wagen herumschlich und solange Steine nach dem Chauffeur warf, bis er mir nachlief. Abends gingen wir essen und danach in eine Bar. Wir saßen dann am Tresen und Onkel Ramón erzählte mir unverständliche Dinge aus seiner Kindheit in America Latina. Zwischendurch fragte er mich manchmal Sachen wie „Wie geht’s deiner Mutter, dieser Puta?“ oder „Was treibt deine Mutter, diese Puta, eigentlich den ganzen Sommer?“. Manchmal sprachen wir auch über andere Putas. „Gefällt dir diese geile Puta, Augusto?“ „Si, Onkel Ramón, geile Puta.“
In der letzten Woche meiner Sommerferien nahm mich Onkel Ramón auf seine Segelyacht mit. Ein Traum wurde wahr. Lange saß ich wohl mit offenem Munde herum und staunte über diese unendliche Flachheit der Welt. Mein Leben lang erdrückt von den Schatten der Berge und hier war einfach alles flach, flach und nochmal flach! Die Hitze außerdem brannte mir die Kälte aus den Knochen heraus.
Gezeichnet hatte ich ja schon genug Boote und nun endlich war ich selbst auf einem. Fasziniert ließ ich mir von Onkel Ramón alles erklären. Tatsächlich hatte jedes Seil, seemännisch Tau genannt, eine eigene Bedeutung! Wissbegierig beobachtete ich die Wirkung des Windes, das Spiel des Lichts auf den Wellen, die Farbe des Meeres, sog jede Einzelheit in mich auf. Onkel Ramón teilte mich auch ganz schön ein. Wir waren nur zu zweit am Boot und er brauchte meine Mitarbeit.
Am dritten Segelabend ankerten wir in einer Bucht, doch der Anker hielt nicht und wir wurden aufs Meer hinausgetrieben. Onkel Ramón, der schon einiges getrunken hatte, sagte nur: „So eine verdammte Puta von einem Anker!“ Er wollte das kleine Missgeschick gleich nutzen und eine spontane Nachtfahrt machen. Er hob das Glas, prostete den aufziehenden Wolken zu, schrie dabei ein inniges „Putaaaaa!“ und hoffte auf wohlgesinntes Wetter. Doch das Wetter spielte nicht ganz mit. Starker Wind kam auf und die Wellen marterten das Boot. Ich merkte, dass Onkel Ramón sich Sorgen machte und deshalb immer mehr zu trinken begann. Er hielt sich jedoch wacker am Steuerrad, wurde von den überkommenden Wellen gepeitscht und fluchte: „Puta Wetter, Puta verdammte!“
Und ich jauchzte! Noch nie in meinem Leben fühlte ich mich derart lebendig. Ich dachte, wir stünden am Abgrund zur Hölle, würden jeden Moment abkratzen, ersaufen, wie zuhause die kleinen unerwünschten Kätzchen im Fluss ertränkt wurden, und das gab mir Freude, Energie und noch nie dagewesene Lust auf Leben! Ich wusste eines nun mit Sicherheit. Sollte ich diesen Sturm überleben, wollte ich unbedingt selbst Skipper werden. Ich wollte selbst die Kontrolle über solch ein Gefährt haben und selbst gegen Wind und Wetter antreten!

Weg II

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Den Flug fand ich als Jugendlicher atemberaubend aufregend. Über allen Dingen glitt ich in einem zerbrechlichen Rohr aus Blech durch die Lüfte, frei und weit weg von allem, unfassbar! Hierher konnten mich nichts und niemand verfolgen!
Es war dunkel, als das Flugzeug in Athen landete. Ein kleiner Grieche mit Sonnenbrille, der jegliches Interesse an den Ereignissen dieser Welt verloren zu haben schien, holte mich dort ab. In einem unglaublich großen Auto wurde ich durch das nächtliche Athen kutschiert, irgendwohin in eine höher gelegene Gegend. Obwohl für mich alles, einfach alles, völlig neu war, hatte ich mit meinen fünfzehn Jahren keine Angst. Wenn ich‘s mir recht überlege, dachte ich damals wohl einfach nichts. Ich ließ alles geschehen, mein Gehirn war leer, konnte ja doch nichts an den Dingen ändern. Die Lichter der Stadt sprangen auf den blankpolierten Scheiben der Limousine in einem einschläfernden Rhythmus hin und her, an einer Ampel beobachtete ich einen fetten Mann unter einer Brücke, der eine Frau mit der einen Hand festhielt und ihr mit dem Faustring der anderen ins Gesicht schlug. Der Wagen wurde zum Glück durch eine Klimaanlage gekühlt, die Hitze hatte mir am kleinen Flughafen in Athen auf dem Weg zum Auto eine ganz schöne Ohrfeige verpasst!
Das Haus von Onkel Ramón war gewaltig, und ungewohnt hell. Sehr viel weiß, sehr viel Licht, und künstlich eisig gekühlt. Er selbst war in seinem Arbeitsraum und telefonierte. Ich wartete bereits fast eine Stunde, als Onkel Ramón breit grinsend und mit ausgebreiteten Armen auf mich zukam. Zuerst zuckte ich leicht zusammen, denn seine Vorderzähne schienen alle aus Gold und Silber zu sein, metallisches Lächeln. Ich musste mich konzentrieren, denn ich hatte bis jetzt nur mit meiner Mutter spanisch gesprochen und Ramón redete verdammt schnell und undeutlich.

Weg!

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Dieses katholische Gymnasium interessierte mich eigentlich überhaupt nicht. Wusste einfach nicht, was ich mit dem ganzen Krempel, den sie da Tag für Tag auf mich einredeten, anstellen sollte. Ich zeichnete viel lieber Comics, die von den verrückten Lehrern handelten. Die Geschichten waren bei meinen Mitschülern sehr beliebt und mir gaben sie Gelegenheit, meine Gedanken aus dem Käfig zu lassen.
Nur die Ferien verbrachte ich zuhause in den Bergen. War auch nie sehr lustig, denn Freunde hatte ich dort keine mehr. Mit fünfzehn, glaube ich, war‘s, als Mutter mich den Sommer über nach Griechenland schickte. Auf einmal erzählte sie mir etwas von einem Bruder, den sie in Athen hatte, meinem Onkel Ramón. Mutter war nicht gerade begeistert davon, aber Tante war verreist und uns drohte wieder einmal der Verlust unseres Hauses. Mutter hatte kaum für sich selbst genug zu essen und mir war alles andere lieber als in der Wildnis zu verhungern oder dort in der ewigen Scheißkälte zu erfrieren. Onkel Ramón hatte Flugtickets geschickt, ich konnte auf der Stelle aufbrechen. Mutter weinte, tobte, beschwor mich, ja wieder zurückzukommen, ja nicht bei Onkel Ramón zu bleiben, ich war ja noch ein Kind, was sollte sie nur tun. Mutter lief im Kreis. Sie telefonierte lange mit Onkel Ramón, schrie ihn an und wünschte ihn und sowieso die ganze Verwandtschaft zum Teufel. Am nächsten Tag war ich auch schon in Athen.

Mutter des Krieges III

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Seit unglaublich vielen Jahren lebte Tante bereits ohne Mann, sie hatte es ja geschworen. Sie besaß bloß eine Katze, auf die sie all ihr unerfülltes Verlangen und ihre Sehnsüchte losließ. Die Katze war ein zu Tode geliebter Zombie. Schwarz, und das dumme Vieh hasste mich.
Jeden Abend trat Tante auf den Balkon ihres Hauses, eine Bühne, die für alle Nachbarn gut sichtbar im rötlichen Abendlicht lag. Dort stand sie und rief mit aller Kraft den Namen der schwarzen Katze – Tante erwähnte immer wieder voll stolz, dass sie beim BDM wegen ihrer guten und kraftvollen Sangesstimme sehr beliebt war. Sie rief den Namen der Katze zehnmal, zwanzigmal, in verschiedenen Tonlagen, kurz und langgezogen, sie sang ihn solange, bis die Katze antrabte. Die allabendliche Arie für die Nachbarn. Der Name der Katze war „Muschi“.

Mutter des Krieges II

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Tante sorgte sehr für mich. Sie durchsuchte die Taschen meiner Freunde, kategorisierte sie nach Herkunft und Schulnoten und kümmerte sich um ein gutes Verhältnis zu den Eltern mit Bildung und Geld. „Herr Magggiiiiiister!“ – „Frau Kommerziaaaaalraaaaat!“, so rief sie durch die Straßen des kleinen Städtchens und lief ihnen entgegen, sobald die aufgetakelten und geldgeilen, alten Säcke daherkamen.
Hatte ich mal Ruhe, versenkte ich mich in die Malerei. Zeichnete mordende Untote und Totenköpfe mit Ratten, die ihnen grinsend durchs Gehirn krochen. Gerne malte ich auch alte Segelschiffe, die über die unbekannten Weiten der Meere fuhren. Riesige mit Kanonen bestückte Galeeren, die sich in Sonnenuntergängen blutig romantische Gemetzel lieferten. Wie schön doch ein Leben am Meer sein musste! Ich war sehr begabt, das sagten sogar die Lehrer.
„Augustin, du wirst Arzt. Als Künstler stirbst du den Hungertod. Das ist ja peinlich.“
Jeden Tag schleppte ich mich in eine strenge katholische Schule, die, ehemals reine Knabenschule, erst seit kurzem auch Mädchen akzeptierte. Niemand wusste, was man mit ihnen anfangen sollte.
Der Unterricht war hart. Tante machte mir das gleich am ersten Schultag klar: „Augustin, nur damit du dich darauf einstellen kannst. Zum Schulende wird der Schüler mit den schlechtesten Noten öffentlich hingerichtet. Und wer mit achtzehn Jahren keine Jungfrau mehr ist, ebenfalls.“ Hätte das der Wahrheit entsprochen, wäre ich wohl tausend Tode gestorben. Und dort saß ich nun Tag für Tag mit den Kindern der aufgetakelten und geldgeilen, alten Säcke und fühlte mich allein. Nur ich sprach meinen Dialekt, niemand verstand mich.
Noch bevor ich den Unterschied zwischen Gut und Böse kannte, brachte mir Tante bei, Juden zu erkennen. An der Nase, an den Ohren, am Namen. Fernsehen durfte ich nicht – außer den Nachrichten um halb acht, in denen die Juden sprachen, war TV verboten. Zuviel Sex und Perversität in den Medien. Verabscheuungswürdig, sagte Tante, die Welt geht an ihren animalischen Trieben zugrunde. Und die Juden geben ihr dann den Rest. Was hatten wir immer für einen Spaß, bei den Nachrichten die Juden und ihre Weltverschwörung zu enttarnen! Lange Zeit habe ich mich später dafür gehasst! Ich verabscheue solch ein Denken aus tiefster Seele.

Mutter des Krieges I

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Nachdem Vater spurlos verschwunden war, brachen schlimme Zeiten für Mutter und mich an. Ich wurde zu einer Großtante in ein kleines Städtchen gebracht. Es war jedoch nicht irgendeine Tante, sondern „die Tante“. Jeder in der Familie nannte sie „die Tante“. Sie war die kinderlose Gottmutter. Sie nahm die Sprösslinge der Familie bei ihr auf, um ihnen Anstand und Bildung beizubringen.
„Augustin, du wirst Arzt.“ Ich war zehn, meine Hoffnungen verloren.
Am liebsten erzählte Tante vom BDM, Bund deutscher Mädel, und vom im Krieg gefallenen ersten Ehemann. Ein Held.
Der zweite Ehemann war ein Reinfall. Kapitän der Meere, mit schicker Uniform. Er war oft monatelang nicht daheim und kam irgendwann gar nicht mehr zurück. Niemand weiß, wo er geblieben war. Es war auch besser so, meinte Tantchen, denn er war zwar ein durchaus brauchbarer Mann, als Gatte nicht die unglücklichste Wahl, hatte aber nichts im Kopf. Ein Seemann eben. Ich lernte ihn nie kennen, war aber von dem Gedanken fasziniert, zur See zu fahren. Lange Zeit unterwegs, kaum irgendwo angekommen, auch schon wieder weg. Kein Stillstand. Und wenn’s dir wo nicht gefällt, kehrst du nie mehr dahin zurück.
Es gab noch einen dritten Anwärter für die Ehe. Einen reichen amerikanischen Selfmade-Millionär, natürlich Jude, typisch. Er war so charmant, machte allerlei Geschenke und Anträge, doch Tantchen wollte nicht und nicht der Heimat den Rücken kehren. Er starb bevor es zu einer Entscheidung kam. Doch musste Tante ihm zuvor am Totenbette noch hoch und heilig schwören, keinen anderen Mann mehr in ihrem Leben zu nehmen.
Im Keller von Tantes Haus gab es einen finsteren Raum, hinter einem schweren dunkelroten Samtvorhang. Lange Zeit traute ich mich nicht, den Vorhang beiseite zu schieben, um zu sehen, was dort war. Ein Gewicht schien er zu tragen, das meine kindlichen Kräfte überstieg. Ich fragte Tante oft, bekam aber immer nur unbefriedigende Antworten. Es wäre der Raum mit dem Katzenfenster und dem Katzenclo.
Erst Monate später, als ich mutiger und der Vorhang leichter geworden war, schob ich ihn in einem Anfall von Erkundungsdrang doch mit aller Kraft zur Seite – Tante war gerade beim Einkauf. Ein unerwartet bestialischer Gestank fiel mich da an, mir wurde schwindelig! Zuerst sah ich nur ein kleines, stark verschmutztes, vergittertes Fenster, das eine kleine Öffnung für die Katzen hatte. Ich musste mir wegen des Geruchs die Hand vors Gesicht halten, meine Augen brannten und gewöhnten sich nur widerwillig an die Finsternis. Nach und nach erkannte ich, was sich in dem Kellerloch befand. Zwischen einer Unmenge an Katzenkot lagen lieblos verstreut Erinnerungsstücke herum.
Und dann durchfuhr es mich! Aus den Augenwinkeln sah ich einen großen Schatten neben mir. Mit einem erschreckten Sprung zurück fiel ich auf den Hintern. Da ragte etwas Grausames vor mir in der Finsternis empor: eine riesige Kleiderpuppe mit gewaltigen Brüsten! Bekleidet mit einer Uniform! Hemd, Krawatte, schwerer Mantel, hohe Stiefel, und eine Kappe oben drauf! Orden stachen mir in die tränenden Augen und zwei Blitze. Wie die gesichtslose Mutter des Krieges stand die Puppe über mir. Tot und übermächtig.

Französische Arbeit

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Ich dachte jedoch nicht immer so. Nein, nein. Es gab auch eine Zeit, während der mich der Gedanke faszinierte, einen Vollzeitjob in einem Büro zu haben, mit Kollegen gut auszukommen, mit ihnen nach der Arbeit auf ein Bier zu gehen, den ganzen Scheiß mitzumachen. Doch bereits nach kurzer Zeit war ich mit den Nerven völlig am Ende. Ein paar aufdringliche Gutmenschen im Büro bemerkten das und überredeten mich zu einem Kurzurlaub in Frankreich.
Es war in Paris, als wir in einem Lokal saßen und draußen die Hölle losbrach. Den ganzen Tag schon spürten wir das Knistern der Stadt. Jede Menge Polizei war zu sehen, Straßen wurden gesperrt, Hunde bellten und nun ging‘s los! Schreiende Menschen mit Transparenten in den Händen zogen am Lokal vorbei! Ich verließ meine Kollegen mit einer Flasche Bier in der Hand und schloss mich einer kleinen tobenden Menge an. Keine Ahnung, worum‘s ging, die Sprache verstand ich nicht und es war mir auch egal.
Neben mir lief ein Mädchen, das mir gefiel. Sie stellte genau das dar, was ich mir immer unter einer typischen Französin vorgestellte: überhaupt nicht auf den Mund gefallen und immer für einen kleinen Fick zu haben. Um die Aufmerksamkeit des Mädchens zu erregen, legte ich mich ganz schön ins Zeug. Ich brüllte wie ein Irrer herum, indem ich ihre Schreie nachahmte. Zuerst bemerkte sie mein Engagement wohlwollend und sah mich mit einem verschwörerischen Blick an, doch das hörte auf, als sie ein paar Leute traf, die sie kannte. Die Französin stellte sich zu ihnen neben eine Telefonzelle. Um nicht in Vergessenheit zu geraten, warf ich mit lautem Gebrüll meine Bierflasche in eine Menge von Polizisten, die in einiger Entfernung irgendwas bewachten. Das Mädchen hatte das leider nicht bemerkt, die Polizisten schon. Sie formierten sich und begannen auf die Demonstranten einzuprügeln, es entstand ein hübsches Gemetzel. Die Französin und ihre Freunde hämmerten nun auf die Scheiben der Telefonzelle ein und beschimpften die Polizisten, die ordentlich Schläge austeilten. Das war meine Chance. Ich schnappte mir von einem nahestehenden Baugerüst einen ungefähr zwei Meter langen Holzpfosten und lief damit, ihn wie eine Lanze vor mich haltend, mit aller Kraft in die Telefonzelle, die nun völlig im Arsch war. Zwar rammte ich mir ein gutes Stück Holz in die Innenseite meines Oberarmes, aber dafür lud mich nun das Mädchen mit einer Handbewegung ein, gemeinsam mit ihr und ihren Freunden vor der Polizei davonzulaufen. Ich hatte schon einiges an Erfahrung mit Demonstrationen und den gewalttätigen Ausschreitungen danach, aber das in Paris erinnerte mich eher an Bürgerkrieg.
Es wurde ein herrlicher Nachmittag. Am Abend versorgten wir gut gelaunt unsere Verletzungen, die wir von den Schlagstöcken der Polizei bekommen hatten, die Bisswunden von den Hunden und waren bald wieder auf der Straße, um uns die brennenden Autos anzusehen. Es war wie Weihnachten.
Zurück in Wien jagte ich diese „Kollegen“ und das Büro zum Teufel und kündigte.

Am Abend

(Inhaltsverzeichnis)

Am Abend latsche ich manchmal in die Obenohnebar. Wenn die stressige Arbeit getan ist, wenn die Schufterei ein Ende hat, dann hab ich mir das verdient. Ein bisschen ausruhen, entspannen.
Ich hock mich aber nur an ausgesuchten Tagen in die Obenohnebar. Am liebsten eigentlich am Sonntag. Das ist der traurigste Tag von allen. Von Donnerstag bis Samstag sind mir zu viele Leute mit zu guter Laune dort. Das sind die, die während der Woche mit eingeschlafenem Gesicht hinterm Schreibtisch hängen, sich am liebsten aus dem nächsten Fenster stürzen würden, alle anschnauzen, aber mit zunehmendem Nahen des Wochenendes wieder zu umgänglichen Menschen werden und aufwachen. Die sitzen dann unruhig in der Obenohnebar, wetzen mit ihrem Arsch den Überzug der Barhocker ab, grinsen dämlich, reißen blöde Witze und sind ganz hysterisch, weil sie vielleicht etwas tun, was Mama verboten hat.
Am schlimmsten ist es, wenn im Winter ganze Belegschaften von Firmen in die Bar krachen, die erwähnten abgeleckten Arschgesichter mit Anzug und Krawatte mit ihren durchgefickten Stelzenhopsern, völlig überdreht. Dann überschlagen sich das Gegrunze der Männer und das Gekicher der Frauen. Manche sind zu feige, der Kellnerin auf die Titten zu schauen, andere wiederum tun so als hätten sie noch nie Titten gesehen, oder sie scheinen überhaupt in einen embryonalen Zustand zurückversetzt zu werden.
Am Sonntag ist das anders. Am Sonntag hockt nur mehr der letzte Abschaum in der Obenohnebar herum. Die, denen schon alles egal ist, die, die alles hinter sich haben, die, die am Montag das Gleiche tun wie am Sonntag, die alles aufgegeben haben, die nur mehr darauf hoffen, irgendeinen Ansatz von Reiz an ihrer tauben Seele zu spüren. Da muss ja noch was da sein, verdammt!
Und dann, dann beginnt die große Show! Wenn die Musik losdröhnt, die Lichter angehen und die Mädels aus der Finsternis springen und an ihren Stangen losturnen, da geht er ab. Mein Film. Mein ganz persönlicher Film. Sitze da, meine Augen auf die hüpfenden Ladys gerichtet… und bin doch ganz woanders. Seltsame Szenen laufen ab, Gedanken von irgendwann, irgendwo, vor langer Zeit, ein Paralleluniversum? Bilder blitzen durchs Gehirn, Stimmen fahren mich an, Gesichter tauchen auf – wer ist das? – Blut spritzt, Menschen schreien und gehen ein. Ich kann nichts dagegen tun, muss trinken, das Gehirn überlisten; und stecke dem Girl was ins Höschen.

Rattenloch III

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Den anderen menschlichen Kontakt im Rattenloch pflegte ich am Clo. Ein Mann, der beim Pinkeln pfiff. Kennst du Zamfir? Genauso konnte der Typ pfeifen! Mit dem Unterschied nur, dass er nicht die Panflöte, sondern seinen Schwanz in der Hand hielt. Versteh mich nicht falsch, die Pfeifgeräusche erzeugte er natürlich schon mit seinen Lippen.
Die Melodien waren eine Freude für die Ohren. So berührend, Tränentreiber, verträumt, harmonisch! Hörte man seine Kunst, fühlte man sich in einen bezaubernden Wald versetzt, der wie starkduftende Toilettenluftaufwerter mit picksüßem Kieferngeruch roch. Während er pfiff, wanderte man durch diesen endlosen Wald, traf knurrige Zwerge, nuttige Elfen, streichelte kleine, doofe Häschen, bei denen man Lust bekam, ihnen den Hals umzudrehen, und beobachtete die herumschwirrenden Mücken in der Sonne. Es trieb dir den Alltag aus den Knochen. Ich liebte Zumpfirs Gepfeife! Zumpfir, so nannte ich ihn insgeheim.
Wenn er beim Pinkeln ein Konzert gab – und man weiß ja, dass die Akustik am Scheißhaus hervorragend ist -, zögerte ich meine Cloaufenthalte künstlich und möglichst unauffällig in die Länge, nur um ja keinen einzigen Ton zu versäumen. Meist machte ich das, indem ich nach meinem Geschäft besonders intensive Waschungen durchführte. Ich seifte mir die Arme bis über die Ellbogen mit viel Schaum großflächig ein und wusch mich dann langsam und sorgfältig ab, ohne viel Sauerei zu hinterlassen.
Eines Tages sprach mich Zumpfir dabei an: „Sie waschen sich ja immer äußerst gründlich! Das ist gut zu wissen. Ein Mensch, dem man gerne die Hand reicht!“ Zumpfir lachte ziemlich laut, aber allein, über seinen Witz. Beim genaueren Betrachten im stark ausgeleuchteten Waschbereich fiel mir seine auffällig abstoßende und seltsam glänzende kleine Stupsnase auf. Zumpfir pfiff herrlich, aber war potthässlich und noch dazu äußerst unsympathisch. Ich seifte mir auch noch meine Nase ein und wartete auf Zumpfirs Reaktion. Der verließ aber bloß lachend, kopfschüttelnd die Toilette. Ich sah mich im Spiegel, mit dem von Seife weißen Gesicht und dachte an einen Eisbären.
Seit dieser Begegnung unterbrach Zumpfir seine Kunstpfeiferei, sobald ich auf die Toilette kam, um mit mir zu plaudern. Smalltalk versaut einem wirklich alles.